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Mittendrin, statt nur dabei

Der Retail-Bereich holt Adidas, EDEKA, Lidl, Kaufland und DM zusammen an einen Tisch.

Wenn man den Bürger auf der Straße fragen würde, wie er sich Software-Entwicklung vorstellt, würde den meisten nach kurzer Überlegung wahrscheinlich ein ähnliches Szenario vorschweben: Hippe Nerds sitzen lässig mit den Füßen auf dem Tisch in einem durchgestylten Raum neben ihrem Hochleistungsrechner und überlegen sich, was man Tolles bauen könnte. Dann arbeiten bis drei Uhr morgens bei reichlich Pizza am ersten Entwurf, bevor sie surfen gehen. Denn auch in der Vorstellung des Ottonormalverbrauchers sitzt einer wahrscheinlich nicht mit am Tisch – der Kunde. Und wenn man ehrlich ist, entsprach das lange Zeit auch bei SAP in etwa den wahren Gegebenheiten, abzüglich dem schicken Raum, dem Surfen und wahrscheinlich auch der Pizza.

Der Kunde als Staatsgeheimnis

In manchen Bereichen gibt es ganze Entwicklergenerationen, die so gut wie nie einem Kunden begegnet sind. Sie wurden nahezu als Staatsgeheimnis behandelt und durch Produkt- und Solution Managern abgeschirmt. Nur über sie wurden ihre Anforderungen an das Team weitergegeben, aus Angst, dass zu viele Köche den Brei verderben. Dann baute man nach vagen oder manchmal, aufgrund der Unterschiedlichkeit der Kunden, gar widersprüchlichen Vorgaben, etwas, von dem man hoffte, dass es am Ende auch gebraucht wurde; was nicht immer der Fall war. In den Anfangstagen der SAP war Unternehmenssoftware sowieso etwas komplett Neues. Es gab wenig große Mitbewerber. Da konnte man auch mal am Kunden vorbeientwickeln. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Konkurrenz ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Gleichzeitig ist der Kunde mündig geworden und stimmt zur Not mit den Füßen ab. Und so kam die Ära der Customer-Engagement-Projekte bei SAP. Jetzt werden Kunden von Anfang an eingebunden. Sie werden von UI-Designern nach ihren Prozessen und Anforderungen befragt und regelmäßig per Mockups über den Stand der Dinge informiert. Zumindest auf dem Papier. Denn die Realität hinkt, besonders im On-Premise-Bereich, häufig immer noch hinterher.

Von der Tabakfabrik zur Design-Thinking-Schmiede

Markus Schulz, Manager mehrerer Retail-Teams wollte das in seinem Bereich endlich ändern. Das Umrüsten von Anwendungen auf S/4HANA sah er als Chance, den Kunden gleich mit ins Boot zu holen, statt ihn womöglich erst am Ende bei einer schmerzhaften Eskalation zu sehen. Und damit das Ambiente auch wirklich Kreativität und Offenheit signalisiert, wurden die etwa dreißig Vertriebs- und IT-Vertreter von Adidas, EDEKA, Lidl, Kaufland und DM zu einem Design-Thinking-Workshop in die Räumlichkeiten des Heidelberger AppHaus eingeladen. In der zweiten Etage der ehemaligen Tabakfabrik, deren Name schon andeutet, dass man sich den Leitlinien des Bauhaus entsprechend um geradlinige, allgemein nutzbare Lösungen bemüht, werden längst keine Apps mehr entwickelt. Die Räumlichkeiten dienen in erster Linie der Begegnung und dem Austausch mit Kunden. Der Umgebung nach kommt das AppHaus der allgemeinen Vorstellung vom verspielten Entwickler-Arbeitsplatz sicher schon recht nahe. Statt Kantine gibt es eine Küche im WG-Stil, und statt strenger Meeting-Räume, gibt es Motto-Zimmer, in denen nur noch die obligatorische Spinne an Besprechungen erinnert.

Post-its statt Excels


„Ich bin noch nie zu so etwas eingeladen worden“, meint Maria Popescu aus dem EDEKA-Vertrieb. Und damit meint sie nicht nur das Design-Thinking-Experiment, sondern auch die Tatsache, dass die Zusammenarbeit mit Partnern und Mitbewerbern nach wie vor keine Selbstverständlichkeit darstellt. Obwohl Design Thinking für fast alle Kunden Neuland war, rannte Organisator und Design-Thinking-Coach Wilhelm Grau mit seiner Einladung offene Türen ein. Der Workshop verfolgt bei allem Austausch allerdings auch ein klares Ziel. Die alte, komplexe ERP-Lösung zur Listung von Artikeln soll an die S/4HANA-Welt angepasst und vereinfacht werden. Am besten aber eben nicht nur innerhalb des zuständigen Scrum-Teams aus St. Ingbert, sondern mit den Betroffenen selbst. Und so stehen Kundenvertreter neben SAP-Entwicklern gemeinsam vor großen Tafeln und bemühen sich, die berüchtigten bunten Post-its strategisch richtig zu platzieren.

Zunächst sollen die Kunden dabei, nach Unternehmen aufgeteilt, ihren bisherigen Listungsprozessen auf den Grund gehen, um in einem zweiten Schritt festzustellen, wo es hierbei im Tagesgeschäft bisher technisch noch hakt. Schon ein erster Blick in den Raum zeigt, dass die Listung ein weites Feld zu sein scheint. Eigentlich handelt es sich dabei in erster Linie um das Anlegen eines Artikels im System, damit er zentral oder von einzelnen Filialen bestellt werden kann. Doch genauso vielfältig wie die Prozesse der Kunden sind auch ihre „Painpoints“. Während die einen mit der Übersicht über die schiere Flut gelisteter Artikel für ihre zahllosen Märkte ringen, können die anderen ihr neues Biosortiment nicht wie geplant Markt für Markt einführen, weil die bisherige Listung nur eine Massenpflege für alle Filialen gleichzeitig erlaubt. Bei einigen weichen im System gelistete Artikel auch gerne mal von dem ab, was im Laden vor Ort wirklich auf Lager ist. Wieder andere beklagen, dass sie Artikel nicht temporär wegen Lieferengpässen auslisten können, da zahlreiche Prozesse auf die nicht mehr lieferbaren Artikel zugreifen müssen, was zu Karteileichen führt, die man vergeblich zu bestellen versucht. Angesichts dieser unterschiedlichen Bedürfnisse wird allen schnell klar, dass die „eierlegende Wollmilchsau“ auch in Zeiten von S/4HANA weiterhin ein Fabelwesen bleiben wird. Doch nicht jeder sieht nur Unterschiede: „Es ist interessant zu sehen, dass die anderen ganz ähnliche Painpoints haben“ findet Maria Popescu gegen Ende des Workshops vielmehr.



Das ist erst der Anfang


Und in der Tat scheinen bei keinem der Kunden derart große Entwicklungslücken zu klaffen, dass der Workshop zur kollektiven Entmutigung verleiten müsste. Es wartet jedoch eine Menge Arbeit auf das saarländische Scrum-Team, das sich in einem nächsten Schritt einen Überblick über die Anforderungen verschaffen wird, um an ersten Entwürfen einer Listungs-Workbench zu basteln. „Der Workshop ist dabei nur der Anfang“, wie Markus Schulz betont. Darin soll er sich von ähnlichen Veranstaltung dieser Art abheben. Statt die Kunden nur einmal kurz kennenzulernen und Entwicklungsanforderungen einzusammeln, sollen die fünf teilnehmenden Unternehmen mit den Entwicklern durch regelmäßiges Feedback quasi zusammen an der neuen Lösung arbeiten. Und wie Markus Schulz aus den Gesprächen während des Mittagessens (klar, Pizza) herauslesen konnte, halten die Kunden die Veranstaltung durchaus für gelungen. Auch einem weiteren Workshop sollte also nichts im Wege stehen.

Nach acht Stunden sehen alle Beteiligten ein wenig angeschlagen aus; doch das hält sie nicht davon ab, weiter intensiv über Problemlösungen zu diskutieren. Das erste Ziel der Einbindung ist also erreicht: alle machen engagiert mit. Während es vor der Tabakfabrik bereits dämmert, dürfen zuletzt die DM-Vertreter bei der kollektiven Abschlussrunde ihre Sorgen und Nöte nebst Verbesserungsvorschlägen anbringen. Als diese sich zur Überraschung aller jedoch völlig zufrieden mit der bisherigen SAP-Anwendung zeigen, sind alle wieder hellwach. Und so spricht Entwicklerin Martina Schroeter den anwesenden SAP-Kollegen sicher müde aber glücklich aus der Seele, als sie begeistert meint: „Das ist doch toll, wenn man den Workshop mit einem zufriedenen Kunden beenden kann!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.